Selbstverwaltete Bildung im Südwesten Kolumbiens

Die Bewegung indigener Gemeinden des Departamento Cauca, organisiert im CRIC (siehe Kasten), hat in den letzten Jahrzehnten ein selbstbestimmtes Bildungssystem erkämpft und aufgebaut. Inmitten des Kampfes der Gemeinden für Land, Selbstverwaltung und eigene Gesellschaftsweisen sind die Schulen zu wichtigen Motoren der politisch-sozialen (Wieder-)Aneignung und kulturellen (Wieder-)Belebung geworden.
Martin Mäusezahl (Hamburg) und Eliseth Peña (Popayán, Cauca) / Januar 2021
»Die Gemeinde sagte sich damals: Nur wenn wir die Bildung in die eigene Hand nehmen, kommen wir da raus«, blickt William Bermúdez zurück. Er ist Rektor des Indigenen Schulzentrums von El Meson. Die Gemeinde an den Hängen der Westkordillere ist Teil des indigenen Selbstverwaltungsgebiets Honduras. »Insgesamt unterrichten wir an den verschiedenen Standorten 650 Schüler*innen von der 1. bis zur 11. Klasse«, sagt Bermúdez.
Die Schule wurde 1996 gegründete. Vorher gab es zwar eine kleine staatliche Schule, die meisten Schüler*innen verließen sie aber spätestens nach der Grundschule. Die Bildung war schlecht und hatte wenig mit der Lebensrealität der indigenen Kleinbäuer*innen zu tun. Hinzu kam der bewaffnete Konflikt: »Damals war dies Gebiet der ELN-Guerilla, die FARC-Guerilla machte es ihnen streitig, also kämpften sie untereinander«, berichtet Bermúdez. »Die Schule wurde am Wochenende von der Guerilla als Camp genutzt. Viele Jugendliche wurden von ihr mitgenommen.« Um das zu verhindern und aus wirtschaftlicher Not, schickten die Familien ihre Mädchen mit zwölf Jahren als Haushaltshilfen in die Städte und die Jungen in die Plantagen der Kaffeeanbaugebiete, wo sie oft misshandelt wurden. »Unsere Gemeinde blutete aus. Unsere Kinder, unsere Zukunft hatte hier keine Chance. Der Zusammenhalt zerfiel«, erinnert sich der Rektor. Die Antwort der Gemeinde war eine selbstbestimmte Bildung. Mit Hilfe des Bildungsprogramms des CRIC wurde eine von der Gemeinde verwaltete Schule aufgebaut und zur Erfolgsgeschichte.
Erschaffung einer »eigenen Bildung«
Seit seiner Gründung ist das Thema Bildung für den CRIC ein zentraler Fokus. Socorro Manios, die das Bildungswesen der Bewegung mit aufbaute, erzählt: »Als sich der CRIC gründete und für das Recht der Gemeinden auf Land und die eigene Gesellschaftsweise kämpfte, begann man auch, über eine Bildung nachzudenken, die von der Gemeinde selbst gestaltet und entschieden wird.«Denn das Bildungssystem von Kirche und Staat wurde als Fremdkörper gesehen, der die Interessen der Eliten repräsentierte und dazu beitrug, die eigene Lebensweisen und Organisierung zu zerstören. 1978 gründete die Bewegung daher ein eigenes Bildungsprogramm. Zusammen mit den Gemeinden baute dieses am staatlichen System vorbei mehr und mehr eigene Schulen auf. Ermöglicht und finanziert wurden die Schulen durch Gemeinschaftsarbeit und Sachspenden der Gemeindemitglieder. Parallel schuf das Bildungsprogramm einen Ausbildungsgang, in dem junge Menschen aus den Gemeinden zu Lehrer*innen ausgebildet wurden. Durch die praktischen Erfahrungen und die politischen Diskussionen entstanden in der Bewegung so Praxis und Theorie einer »eigenen Bildung«, die dadurch charakterisiert ist, dass sie in den Gemeinden und ihren Kämpfen wurzelt, zweisprachig und interkulturell ist– und dass sie sich deutlich von der auf der kolonialen Invasion fußenden, europäisch orientierten Bildung unterscheidet.
Diese Bildung wird von den Bedürfnissen, Erfahrungen, dem Wissen, den Sprachen, Traditionen und Kämpfen der organisierten Gemeinden her gedacht. Die Gemeindeversammlungen und die Selbstverwaltung entscheiden über Ziele, Inhalte und Methoden. Sie wählen die Lehrer*innen aus. Bildung soll, so heißt es in einer CRIC-Erklärung, »unsere kollektive Entwicklung und Verteidigung fördert, nicht nur das Vorankommen des Einzelnen. Wir brauchen Gemeindemitglieder, die so ausgebildet sind, dass sie politische Subjekte des gesellschaftlichen Wandels sind und Gemeindeprozesse anstoßen können.« Diese Ausrichtung zeigt sich etwa in der Schüler*innen-Selbstverwaltung. Die Schüler*innen wählen einen eigenen Rat, ähnlich dem Rat der Selbstverwaltungsgebiete. Dieser hat Mitbestimmung bei Schulangelegenheiten und Lerninhalten, wird in die Selbstverwaltung der Gemeinden eingebunden und organisiert die Schüler*innenschaft auch bei Aktivitäten außerhalb der Schule.
Eine wichtige Rolle beim Überwinden kolonialer Strukturen spielt auch der zweisprachige und interkulturelle Ansatz: In den eigenen Schulen wird, wo möglich, auf Spanisch sowie auf einer der acht indigenen Sprachen des Cauca unterrichtet. Dies ist nicht nur ein Akt der Anerkennung und Wiederbelebung der eigenen Kultur. Eine andere Sprache macht auch eine andere Sicht auf die Welt, andere Gesellschaftsweisen und einen anderen Umgang mit der Natur denk- und umsetzbar. Ähnlich verhält es sich mit dem interkulturellen Ansatz. »Dass sich im CRIC verschiedene indigene Kulturen zusammengeschlossen haben, sorgt dafür, dass es eine Anerkennung der Vielfalt von Weisheit und Wissen gibt,« erklärt Socorro Manios. »Wir wollen das nicht vereinheitlichen, denn wir sind nicht einheitlich, wir sind Vielfalt.« Diese Vielfalt soll sich austauschen und bereichern.

Ein eigenes pädagogisches Konzept
Neben eigenen Lerninhalte – etwa Selbstverwaltung, Gemeinschaftsarbeit, eigene Feste, alternative Wirtschaftsformen, Saatgut-Bewahrung, die Kultur der indigenen Gemeinden oder ein anderes Naturverhältnis – erwuchs aus der eigenen Bildung auch ein eigenes pädagogisches Konzept. Lehrer*innen heißen nun »dinamizadores«, was so viel wie Bewegungs- und Richtungsgeber*innen bedeutet. Der Frontalunterricht wurde abgeschafft. »Unsere Kinder sollen selbstbestimmte und selbstbewusste Menschen werden«, sagt Rektor Bermúdez aus El Meson. »Daher überlassen wir ihnen die Initiative. Sie sollen zu ihren eigenen Schlüssen kommen, wir ermöglichen diesen Prozess nur.« Und Aristides Zambrano, einer der 50 dinamizadores der Schule, stellt fest: »Es geht nicht darum, alle gleich zu machen. Hier werden alle nach ihren Fähigkeiten und Wünschen gefördert.«
Statt einzelnen Fächer gibt es jetzt »tejidos«, Gewebe. »Die indigenen Gemeinden verstehen die Welt als Gewebe, in der alles miteinander verknüpft ist«, erklärt Bermúdez. Praktisch heißt das: »Wir besuchen etwa mit der Schulklasse ein Kaffeefeld. Die Kinder lernen alles über den Anbau, ernten selbst und wiegen dann ihre Ernte«, erklärt Bermúdez. »In der Schule rechnen sie mit den Wiege-Ergebnissen und erfahren anschließend, wie der Kaffee in die ganze Welt exportiert wird – etwa nach Deutschland, wo kein Anbau möglich ist. So thematisieren wir Geografie.« In der eigenen Bildung wird Lernen in der Praxis und am Beispiel groß geschrieben. Dazu werden Gemeinde und Natur als Lernorte einbezogen. »Wir schauen uns die Sachen direkt an«, so Bermúdez. »Wenn wir über den Schutz des Wassers und der Bäume sprechen, gehen wir zu den Quellen und Wäldern in der Gemeinde, machen mit der Gemeinde Projekte zum Schutz der Quellen oder Wiederaufforstung.« Passend dazu wurde die eigenständige Nachforschung zur zentralen Lernmethode gemacht. Ausgehend von den Schulen tragen Lehrer*innen, Schüler*innen und alle Bewohner*innen die Geschichte(n), Gesellschaftsweisen, Techniken, Sprache und Traditionen der Gemeinden zusammen und beleben sie neu.
Ausbau und staatliche Anerkennung
Schließlich nahm sich die Bewegung auch der höheren Bildung an. 1991 wurde im Selbstverwaltungsgebiet von Toribio das CECIDIC gegründet. Es bietet seither verschiedene, an den Bedürfnissen der Gemeinden ausgerichtete Ausbildungsgänge zur Berufs- und Hochschulqualifikationen an – etwa nachhaltige Gemeindewirtschaft, Agrarökologie oder Gemeindeorganisierung. Darüber hinaus beschloss die Bewegung 2003, mit der Interkulturellen Indigenen Autonomen Universität eine eigene Uni zu gründen und zu finanzieren (1).
Die staatliche Anerkennung für die eigenen Bildungsstrukturen erzwang die Bewegung allerdings erst 2013 durch massive Mobilisierungen. »Wir mussten dafür jahrelang immer wieder die Panamericana-Schnellstraße besetzen«, erinnert sich Rektor Bermúdez. Heute haben indigene Selbstverwaltungen in ganz Kolumbien das Recht, Schulen und Bildungssysteme zu unterhalten, über deren Strukturen, Methoden und Inhalte sie selbst bestimmen, und dafür staatliche Anerkennung und Finanzierung zu erhalten. Dieser politische Erfolg hat zu einer verstärkten Dynamik der eigenen Bildung geführt. Die im CRIC organisierten Selbstverwaltungsgebiete betreiben heute 135 Schulzentren mit zusammen 651 Zweigstellen, die von fast 40.000 Schüler*innen besucht werden. Da viele Schulen erst seit kurzem unter der Selbstverwaltung der Gemeinden stehen, arbeiten viele noch nicht voll nach den eigenen Bildungskonzepten. Aber eine Umstellung findet nach und nach statt.
In El Meson hat sich durch die Umstellung vieles zum Besseren verändert: »Mit der eigenen Bildung trugen wir entscheidend dazu bei, dass unsere Kinder nicht mehr bei der Guerilla landeten oder in jungen Jahren die Gemeinde verlassen mussten«, bilanziert Rektor Bermúdez. Heute besuchen die meisten die Schule bis zur 11. Klasse. Viele Abgänger*innen sind Amtsträger*innen und Angestellte in der Selbstverwaltung, andere Lehrer*innen, Agrartechniker*innen der Kaffeekooperative oder haben andere Berufsabschlüsse gemacht. Durch die kollektive Aneignung der Bildung ist der bisherige Fremdkörper Schule zum integralen Bestandteil der Gemeinde und ein zentraler Ort für deren Zusammenhalt geworden, das kulturelle und soziale Zusammenleben aufgeblüht. »Ein besseres Zeugnis gibt es nicht«, sagt Rektor Bermúdez stolz.
(1) Zur bewegungseigenen Uni siehe unseren Artikel in der analyse & kritik vom Mai 2020.
Die indigene Bewegung organisiert sich seit 1971 im »Consejo Regional Indígena del Cauca«(Indigener Regionalrat des Cauca, CRIC). Zentral war und ist für die Bewegung der Kampf gegen die kolonial-rassistische Ausgrenzung als Indigene sowie gegen die wirtschaftliche Ausbeutung als Kleinbäuer*innen. Trotz massiver Repression erkämpfte die indigene Bewegung umfassende Selbstverwaltungs- und Landrechte sowie kulturelle Anerkennung. Die Bewegung organisiert sich aktuell in 126 indigenen Lokalverwaltungen und 94 rechtlich anerkannten indigenen Selbstverwaltungsgebieten mit etwa 264.000 Einwohner*innen. In den Selbstverwaltungsgebieten organisieren die Menschen ihre Verwaltung, sowie Teile ihrer Bildung, Gesundheitsversorgung und Wirtschaft nach eigenen Vorstellungen und unter Beteiligung der gesamten Gemeinde.
Dieser Artikel wurde zu erst in der Zeitschrift „contraste“ Nr. 436 (Januar 2021) veröffentlicht.
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