Wir Nasa sind yu’luuçx – die Kinder des Wassers

Wandbild in der bewegungseigenen Universität UAIIN – Foto: Kaffeekollektiv Aroma Zapatista.

Húber Castro Caliz ist Linguist der Nasa-Gemeinschaften in Tierradentro und Experte in Sachen Spiritualität und Weltbild der Nasa. Miguel Boller sprach mit ihm im Juni 2018.

Erklären Sie uns bitte die Kosmovision, also das Weltbild der Nasa!

Die Nasa nehmen in ihrer Kosmovision eine Unterteilung in drei Welten vor: die Welt oben, die Welt hier und die Welt unten.

Diese drei Welten mit ihren unterschiedlichen Räumen und Persönlichkeiten unterhalten enge Beziehungen, sowohl untereinander als auch mit den Menschen. Deshalb kann ein Nasa nie isoliert von den Wesen leben, die in den drei Welten wohnen. Wenn er sie vergisst und das Gewebe zerreisst, das sie miteinander verbindet, wird diese Einheit zerstört. Schließlich hängt das Leben von der Harmonie und der Kommunikation ab. Von daher ist das Denken eines Nasa nicht individuell, sondern kollektiv; es hat spirituelle Züge und bezieht das Gedächtnis der Ahnen mit ein. Der Beweis dafür: Wir verwenden das Wort ûusyahkx, wenn wir von «analysieren» oder «reflektieren» sprechen. Und dieses Wort kommt von «Herz», ûus, und «denken», yahkx.

In unserer Tradition haben wir unsere eigene Art, die Dinge zu erklären. Ein gutes Beispiel ist der Schamane, der mit den anderen Welten kommunizieren und die Zeichen interpretieren kann, die ihm die Geister schicken. Er kann ihre Bedeutung erklären und Ratschläge erteilen, um bestimmte Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, damit wir die Harmonie aufrechterhalten. Ein anderes Beispiel sind unsere Anführer*innen: Die Gaitana, Juan Tama, Angelina Guyumus, María Mendiguagua, Manuel Quintín Lame, Álvaro Ulcué Chocué und Benjamín Dindicué, die uns und den neuen Generationen ihre Vorstellung vom Widerstand so gut erklärt haben.

Können Sie uns diese Vorstellung vom Widerstand näher erläutern?

Vielleicht ist es weniger eine Vorstellung, sondern vielmehr die Energie, die vom Hunger kommt, von der Unterdrückung, und vom Druck der Invasoren, die täglich in den Territorien der Gemeinschaften nach Ressourcen jagen. Was ist Widerstand? Widerstand bedeutet, sich auf organisierte Art und Weise zu weigern, die Anweisungen zu befolgen, die gegen die Natur gerichtet sind. Auch wenn dieser Teil schwer zu verstehen ist: Die Bevölkerung versucht auf tausend verschiedene Arten zu überleben.

Gibt es in der Kosmovision auch eine Geschichte über den Ursprung der Menschen?

Ja, und diese Geschichte wird in vielen Variationen erzählt. Allen gemeinsam ist jedoch die Rolle des Wassers als Mutter. Die Alten erzählen über den Ursprung der Menschen, dass Yu’, die Mutter Wasser – und Tochter der Erde – auf der Suche nach einem Begleiter war. Als sie niemanden fand, beschloss sie auf dem höchsten Teil der Berge zu bleiben. Dort setzte sie sich und widmete sich weiter ihrem Kunsthandwerk. A’, der Stern, war ebenfalls auf der Suche nach einer Begleiterin. Eines Tages beschloss er, vom höchsten Gipfel der Erde aus Ausschau zu halten. Auf einem anderen Gipfel konnte er etwas erkennen, das wie eine Frau aussah. Vorsichtig näherte er sich. Yu’ fühlte sich belästigt, stand auf und lief davon, dabei ließ sie völliges Desinteresse erkennen. Als sie ging, sah A’, dass unter ihren Füßen Wasser hervorquoll. Ihre Blicke kreuzten sich und A’ tauschte die ersten Worte mir ihr aus. Sie sprachen nur kurz miteinander, doch mitten im Gespräch fragte Yu’: «Weshalb verfolgst du mich?» Er antwortete: «Ich bin hier nur auf meinem Weg vorbeigekommen, doch ich möchte mich mit dir unterhalten.» Yu’ frage ihn: «Hast du eine Partnerin?» A’ antwortete: «Nein, doch ich bin auf der Suche nach einer Frau, von der ich geträumt habe.» – «Wie ist diese Frau?» Er vertraute ihr an: «Vor kurzem habe ich von einer Frau geträumt. Von dem, was ich erinnere, glaube ich, dass sie die Besitzerin des Wasser ist.» Als sie das hörte, schmunzelte sie erst und musste dann schallend lachen. Er verstand nicht, warum.

Schließlich erzählte sie ihm: «Ich bin die ‘Frau Wasser’, von der du geträumt hast.» – «Wenn du die Frau Wasser bist, dann bist du diejenige, die meine Begleiterin sein soll.» Die Alten erzählen, dass Yu’ weiter lächelte und langsam ihren Kopf in Richtung ihres Vaters, der Sonne, drehte. Ihr Vater hob das Gesicht, schaute A’ an und deutete so etwas wie Zustimmung an. Als Yu’ gebar, quoll sehr viel Wasser. Erst kam ein Junge zur Welt, danach ein Mädchen. Die Familie wurde noch sehr groß. Und deshalb sind wir Nasa die yu’luuçx, die Kinder des Wassers.


Miguel Boller, studiert Philosophie, lebt in Cali und arbeitet in den Bereichen Bildung und Permakultur in Programmen der Asociación de cabildos indígenas del municipio de Páez, Nasa Çxhãçxha


Dieses Interview ist Teil der Broschüre „Land, Kultur und Autonomie – Die indigene Bewegung des Cauca (Kolumbien)“, die im Januar 2019 von zwischenzeit e.V. veröffentlicht wurde.


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