
Tobi lebt in der Kleinstadt Toribio im Norden des Cauca, die lange Zeit am härtesten umkämpft war zwischen FARC-Guerilla und Militär. Er ist seit 14 Jahren bei der Guardia Indígena, gewissermaßen seit ihrer Gründung im Jahr 2001, und war für mehrere Jahre auch ihr Koordinator in Toribio. Der Fotojournalist Jonas Wresch traf ihn im Mai 2018 in Toribio.
Was ist die Guardia Indígena?
Die Guardia Indígena wurde 2001 gegründet, auch wenn wir sagen: Wir sind eine Guardia Millenaria, die schon seit Tausenden von Jahren existiert. Doch 2001 haben wir beschlossen, dass es eine Guardia geben muss, die als solche auch sichtbar ist, erkennbar an einem rot-grünen Halstuch und einem Stock, dem Bastón de Mando. Heute haben wir auch Westen und Funksprechgeräte und regelmäßige Aus- und Fortbildungen.
Die Guardia ist das Fühlen und Denken der indigenen Nasa, sie entspringt unserem gemeinsamen Lebensprojekt, dem Plan de Vida der Nasa. Von hier aus hat sich die Guardia im ganzen Land ausgebreitet. Sie ist ein Ausdruck der Gemeinschaft, in jedem Mitglied lebt ein Guardia! Wir sind Wächter und Verteidiger des Lebens, des Territoriums, der Menschenrechte und unseres gemeinschaftlichen Entwicklungsprozesses.
Mit dem Leben meinen wir nicht nur das unsere, sondern viel mehr: auch die Tiere und Pflanzen, die Bäume und das Wasser, der Fels. Für uns ist das alles Leben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass das alles zumindest ein Mindestmaß an Harmonie untereinander aufweist, und in Zukunft hoffentlich noch harmonischer ist.
Wer kann alles zur Guardia gehören?
Jede und jeder, der das im Herzen trägt, kann dazugehören. Wir sind eine sehr gemischte Guardia von Männern und Frauen, Kindern und Jugendlichen und auch Alten. Wir dürfen nicht zu einer der bewaffneten Gruppen gehören.
Ist die Guardia eine Art Polizei?
Wir sind weder Polizei, noch Militär, noch Guerilla und natürlich auch keine kriminelle Bande. Wir sind Zivilist*innen, Bürger*innen, Menschen der Gemeinschaft. Wir haben keine Waffen.
Worin besteht die Stärke der Guardias, wenn sie sich einem bewaffneten Akteur entgegenstellen?
Wir haben einige Grundsätze: Einheit, Land, Kultur und Autonomie. Mit der Einheit kannst Du alles erreichen, was Du willst! Schließlich gehst du als Guardia nicht allein. Es gehen zwei, es gehen fünf – oder 1000! Wenn wir uns etwa heute dazu entschließen, eine bewaffnete Gruppe aus einer bestimmten Region zu verjagen oder einen Jugendlichen aus deren Fängen zu befreien, dann geht die gesamte Gemeinschaft zusammen los, also sehr viele Menschen. Auch wenn die Gegner bis an die Zähne bewaffnet sind, werden sie der Masse weichen. Die Einheit ist hier sehr wichtig.
Hast Du ein Beispiel für uns?
Wir haben viele Jugendliche von der Guerilla zurückgeholt, oft 12- oder 13-jährige. Aber wir haben auch schon die Polizisten beschützt, als die FARC-Guerilla deren Stützpunkt einnahm und zerstörte, stellte sich die Gemeinschaft schützend vor die Polizisten, so dass die Guerilla sie nicht mitnehmen oder töten konnte.
Die Guardia hat aber auch schon gegen das Militär und die Polizei agiert.
In den Jahren 2011/2012 errichtete die Polizei ihre Unterstände zwischen unseren Häusern, manchmal sogar in unseren Häusern selbst, mitten im Dorf! Da forderten wir, das Völkerrecht zu respektieren. Wir forderten, dass sie ihre Polizeiunterstände und -posten nicht mitten unter der Zivilbevölkerung bauen (Zivilbevölkerung als Schutzschild vor Granatangriffen der FARC-Guerilla, die jedoch ihrerseits keine Rücksicht nahm, Anm. d. Red.). Wir versammelten uns also und trugen gemeinsam die Sandsäcke der Unterstände und Schutzwälle einfach weg.
Im Jahr 2014 nahmen wir auch eine Gruppe Guerilleros gefangen, die mehrere Mitglieder der Guardia Indígena ermordet hatten: Die Gemeinschaft nahm sie gefangen, obwohl sie bis an die Zähne bewaffnet waren. Wir hielten über sie Gericht, verurteilten und bestraften sie.
Wie war das möglich?
Wir machen das in erster Linie mit Dialog, nicht mit Gewalt. Wir wollten sie überzeugen, dass sie einen Fehler begangen hatten, dass wir ihnen aber nicht nach dem Leben trachteten, sie aber dennoch dafür bezahlen müssten. Manchmal verstehen sie uns auch. Aber wenn unsere friedliche Strategie nicht funktioniert, können wir auch mit Gewalt gegen sie vorgehen. Wenn sie 50 sind, sind wir 1000! Sie töten vielleicht einen, niemals aber alle. Das verstehen auch die bewaffneten Akteure: Mit einer vereinten Gemeinschaft spielt man nicht herum.
Wie viele Guardias gibt es im Cauca?
Allein hier in Toribio sind wir rund 700 bis 800 Guardias. Im gesamten Norden des Cauca haben wir weit mehr als 2.000. Hier im Norden des Causa sind wir am stärksten und am dynamischsten, aber auch in anderen Landesteilen bauen die Gemeinschaften ihre Guardias auf.
Welche Rolle spielen Frauen innerhalb der Guardia?
Die Guardia ist gemischt-geschlechtlich aufgestellt. Bei Verhaftungen beispielsweise sind Frauen wichtig: Wenn eine andere Frau festgenommen wird, sie angefasst und überwältigt werden muss, kann das kein Mann machen. Generell sind die Frauen sehr wichtig: Es gibt bedeutende Führungspersönlichkeiten mit einem enormen Wissen, oder auch als Gefährtinnen und Mütter.
Sie machen etwa 50 Prozent der Guardia aus. Vom Alter her besteht die Guardia zu etwa 70 bis 80 Prozent aus jungen Menschen. Rund 15 Prozent sind Kinder. Dieser Prozentsatz steigt, da wir in der Schule auch Guardias Escolares haben.
Gibt es Vollzeit-Guardias?
Ja, allein in Toribio sind es etwa 110 Personen, die Tag und Nacht als Guardia Dienst haben.
Verändert sich die Rolle der Guardia mit dem Friedensabschluss?
Für uns bedeutet das Abkommen keinen wirklichen Frieden. Wir erleben hier, dass Abspaltungen der FARC und andere weiter aktiv sind. Sie schließen sich mit Kriminellen zusammen. Auch die staatlichen Sicherheitskräfte sind weiterhin hier..
… gibt es nach wie vor Morddrohungen?
Die haben sogar zugenommen. Früher hatten wir hier hauptsächlich mit der FARC-Guerilla zu tun, die ja ihre Waffen abgegeben haben. Heute sind hier die ELN- und EPL-Guerilla, das mexikanische Sinaloa-Kartell, die Pelusos-Bande … sie erheben „Steuern“, nehmen Geiseln, erpressen, bedrohen und rekrutieren auch wieder Jugendliche.
Wir haben vom EPL allein im letzten Jahr 20 Jugendliche zurückgeholt, die von der EPL rekrutiert wurden. Eigentlich hat der EPL offiziell schon vor langer Zeit die Waffen niedergelegt. Jetzt tauchen sie auf einmal wieder auf und behaupten, sie seien Guerilleros. Doch wir haben sie von unserem Territorium verbannt.
Es gibt hier mehr Marihuana-Pflanzungen als vorher – wie kommt das?
Nachdem die Feindseligkeiten aufgehört haben, ist der Marihuana-Anbau stark gestiegen. Es wird auch nicht mehr nur in den Städten verkauft, auch hier wird viel konsumiert. Wir machen Aufklärungsarbeit in der Gemeinschaft. Wenn wir einen Jugendlichen rauchen sehen, bringen wir ihn zu seiner Familie, sprechen mit ihm, erklären die Konsequenzen. Für manche Familien stellt dies natürlich auch ihre Einkommensquelle dar, einfaches Geld. Wir propagieren eine Substitution und Alternativen, aber das ist nicht einfach. Es gibt keine schnelle, einfache Lösung. Daher haben wir erklärt, dass es einen schrittweisen Umstieg geben muss, dass die Gemeinschaft dafür ein Bewusstsein entwickeln muss, um dann andere Produkte anzubauen.
Gibt es positive Effekte des Friedensabkommens?
Aber sicher: Es gibt keine Kämpfe mehr in Toribio – wir hören keine Schüsse mehr. Ohne Sorgen können die Mädchen und Jungen nun zur Schule gehen. Auch jede/r Einzelne kann nun unbesorgt aufs Feld oder in den Gemüsegarten gehen und dort arbeiten. Auch für die Guardia ist es ruhiger geworden. Mancher Ex-Guerillero ist nun zurückgekehrt, arbeitet und unterstützt nun seine Familie. Wir von der ACIN haben das Programm „Rückkehr nach Hause“ gestartet, um sie bei ihrer Wiedereingliederung zu unterstützen.
Jonas Wresch ist Fotojournalist und verbrachte 2014 mehrere Wochen in Norden des Cauca bei den Nasa. Im Mai 2018 kehrte er nochmals dorthin zurück. Er ist Mitglied der Agentur Focus. 2016: Freelens AWARD. 7/2016 – 6/2017: Stern-Stipendiat.
Dieses Interview ist Teil der Broschüre „Land, Kultur und Autonomie – Die indigene Bewegung des Cauca (Kolumbien)“, die im Januar 2019 von zwischenzeit e.V. veröffentlicht wurde.
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