„Wir indigenen Frauen mussten Widerstand innerhalb des Widerstands leisten“

Die Koordinatorin des Programa Mujer, Nelly Valencia Yule, spricht beim Treffen zum Thema „Indgene Justiz und Gewalt gegen Frauen” – Foto: Kaffeekollektiv Aroma Zapatista

Kaffeekollektiv Aroma Zapatista / November 2019

Der Fokus unserer letzten Reise in die Selbstverwaltungsgebiete der indigenen Bewegung im Cauca, Kolumbien, war die Situation und die Organisierung der Frauen in der Region. Dazu haben wir Gesprächen mit Frauen geführt und an einem Treffen des Programa Mujer (Frauen-Programms) teilgenommen. Hierdurch erfuhren wir viel über Erfolge und Schwierigkeiten ihres beeindruckenden Kampfes innerhalb einer ebenfalls beeindruckenden indigenen Bewegung.

Die meisten der anwesenden 70 Aktivistinnen häkeln das gesamte Treffen lang. Nelly Valencia Yule, Koordinatorin des Programa Mujer, das zu diesem Treffen eingeladen hat, erklärt uns: “Das sind unsere Notizbücher. Wir häkeln das, was wir hier lernen. Bis heute können viele indigene Frauen nicht lesen und schreiben. Also erinnern wir uns aus dem Kopf und mit Hilfe des Gehäkelten, in dem wir später sehen können, was wir bei diesem Treffen gelernt haben und dass wir mitgewirkt haben.“

Eine beeindruckende Bewegung

Das Departamento Cauca liegt im Südwesten Kolumbiens. In den Hängen der Zentralkordilleren leben viele indigene Gemeinden. Hier führen (neo)koloniale Ausbeutungsstrukturen zu großer wirtschaftlicher Not. Der bewaffnete Konflikt zwischen kolumbianischem Staat und verschiedenen Guerillas traf die Zivilbevölkerung besonders hart. Drogenkartelle und paramilitärische Gruppen terrorisieren bis heute die Bevölkerung.

Seit 1971 organisieren sich immer mehr der indigenen Gemeinden im Consejo Regional Indigena del Cauca(CRIC, Indigener Regionalrat des Cauca). Gemeinsam kämpfen sie gegen ihre Diskriminierung als Indigene und die Ausbeutung als Kleinbäuer*innen. Mittlerweile sind rund 260.000 Menschen Teil des CRIC. Die Bewegung ist durch Standhaftigkeit und kluge Strategien zu einer starken, emanzipatorischen Kraft und zu einem Vorreiter für ganz Kolumbien geworden. Der zentrale Pfeiler der Bewegung sind die 94 Resguardos Indigenas(indigene Selbstverwaltungsgebieten), deren Autonomierechte nach langem Kampf in der kolumbianischen Verfassung von 1991 anerkannt wurden. In den Selbstverwaltungsgebieten organisieren die Menschen ihre Verwaltung, sowie Teile ihrer Bildung, Gesundheitsversorgung und Wirtschaft nach eigenen Vorstellungen und unter Beteiligung der gesamten Gemeinde. Das Land ist Kollektivbesitz und unveräußerlich.

Das Programa Mujer

1993 beschloss die indigene Bewegung die Gründung des Programa Mujer als eigene politische Abteilung innerhalb des CRIC. „Es wurde gegründet, da die Frauen schon lange Teil der Kämpfe zur Verteidigung der Selbstverwaltungsgebiete waren und gleichzeitig speziell von einigen Problemen betroffen waren,” berichtet Maria Enriqueta Anacona Jímenez vom Programa. „Die Rechte der Frauen sollten bekannt gemacht und verteidigt werden.“ Frauen und ihre Anliegen treffen in der Bewegung jedoch auch auf viele Widerstände. So erzählt Luciana Velacso Calambas, eine Dinamizadora („Vorantreiberin“) des Programms: „Es war nicht der CRIC, der gesagt hat ‚Hier ist ein Raum für die Frauen‘. Diese Räume wurden nur durch den Kampf von uns Frauen erreicht.“ Und Nelly ergänzt: „Wegen des Machismo in der Bewegung war und ist es sehr schwer, sichtbar zu werden. Wir indigenen Frauen mussten Widerstand innerhalb des Widerstands leisten … Wir müssen beharrlich bleiben, damit unsere Genossen irgendwann auch erkennen, dass das Frauen-Programm notwendig ist.“

Indigene Justiz und Gewalt gegen Frauen

Die fehlende Unterstützung wird auch beim Treffen der Frauen deutlich. Da das Programa Mujer keine ausreichenden Räume hat, findet es auf dem überdachten Parkplatz des Gesundheitsprogramms statt. Dennoch wird lange und engagiert diskutiert. Ziel des Treffens ist es, Vorschläge zum Umgang der indigenen Justiz mit Gewalt gegen Frauen zu erarbeiten. Zunächst wird daher das Rechtssystem innerhalb der Selbstverwaltung besprochen. Anders als beim staatlichen System werden Verhandlungen vor der Gemeindeversammlung durchgeführt. Unter Leitung der Ratsmitglieder entscheidet die versammelte Gemeinde anschließend über das Strafmaß. Dabei ist nicht so sehr eine Bestrafung der Täter*innen das Ziel, sondern eine Wiederherstellung des durch ein Verbrechen zerstörten gesellschaftlichen Gleichgewichts.

Anschließend sprechen die Frauen über die Gewalt, die sie als Frauen erleben: Durch externe, bewaffnete Akteure wie Armee, Paramilitärs, Guerilla oder Drogenkartelle, durch Männer aus ihren indigenen Gemeinden, durch Verwandte und Ehemänner. Ebenso wird die erfahrene strukturelle Gewalt durch Armut und kapitalistische Marktstrukturen, fehlende Bildung und Rassismus einbezogen. Eine Studie zu innerfamiliärer Gewalt, die das Frauen-Programm zusammen mit Wissenschaftlerinnen durchgeführt hat, wurde vorgestellt: In 70 % der Familien in den indigenen Selbstverwaltungsgebieten kommt es zu physischer, psychischer oder spiritueller Gewalt, die sich fast immer gegen Frauen und Kinder richtet. Gleichzeitig werden nur etwa 10 % der Gewaltakte bei der eigenen oder der staatlichen Justiz angezeigt. Und selbst wenn es zu einer Anzeige kommt, hat dies meist keine Konsequenzen für den Täter.

In den anschließenden Diskussionen und Arbeitsgruppen betonen viele Frauen, wie wichtig die Stärkung der eigenen Rechtsprechung für ihren Kampf als Indigene ist. Durch sie werde das rassistische und korrupte staatliche System abgelöst. Daher sei es auch wichtig, die Defizite der eigenen Strukturen anzusprechen und zu beheben.

Kampf als Frauen, Kampf als Indigene

Immer wieder wird auf dem Treffen deutlich, was für ein komplexes Feld es ist, in dem die Frauen für ihre Rechte und Würde kämpfen: Einerseits wollen sie zusammen mit den Männern gegen den Rassismus, die Ausbeutung und Vernichtung kämpfen, die sie als Indigene und Kleinbäuer*innen erfahren, andererseits müssen sie sich gegen die Gewalt und den Machismo der indigenen wie der nicht-indigenen Männer wehren. „Wir werden dreifach unterdrückt: dafür Frau zu sein, dafür Indigene zu sein und weil wir arm sind“, fasst Nelly es zusammen. Viele Frauen betonen, dass sie sich eine Allianz mit den Männern der Bewegung wünschen, von ihnen gehört und in ihren Forderungen unterstützt werden wollen. Oft nehmen sie Bezug auf das indigene Weltbild, in dem Mann und Frau als gleichwertige, aufeinander bezogene Teile eines Ganzen gesehen werden. Auch wenn noch viel fehlt, wie Nelly sagt, sind sich die Frauen des Programa Mujer einig, dass sie in den letzten Jahren mit ihrem Engagement viel erreicht haben. Gloria Edelma Díaz, eine weitere Dinamizadora des Programms, meint: „Wir haben erreicht, dass wir als Frauen sichtbar geworden sind und dass jetzt über die Gewalt gegen Frauen gesprochen wird, was vorher ein Tabu war. Es ist ein Erfolg, dass uns zugehört wird und dass wir Frauen jetzt für uns selbst sprechen können.“


Zur Autor*in: Das Kaffeekollektiv Aroma Zapatista aus Hamburg handelt solidarisch mit Kaffee politischer Bewegungen. Es besteht aus je drei weißen Frauen und Männern. Im November bringt das Kollektiv den Espresso „Tierra y Luna“ („Land und Mond“) auf den Markt. Dieser wurde von indigenen Frauen aus dem Cauca angebaut. Der Erlös ermöglicht den Frauen mehr wirtschaftliche Eigenständigkeit und kommt außerdem der Frauen-Organisierung in der Bewegung zugute.


Dieser Artikel wurde zu erst in der Zeitschrift Frauensolidarität Nr. 151 (November 2019) veröffentlicht.


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