Befreier*innen der Mutter Erde

Bei einer Befreiung der Mutter Erde wehren sich Indigene gegen die Repression durch einen Polizeihubschrauber, Corinto, 2015. Foto: Jonas Wresch.

Landbesetzungen sind eine Art des Widerstands der ländlichen Bevölkerung gegen Großgrundbesitz und Agrar-Multis. Die Nasa im Norden des Cauca nennen das „Befreiung der Mutter Erde“ und die Aktivist*innen Liberadores/as, also Befreier*innen.

Ein Interview von Luis Ortiz und Jochen Schüller mit einer Liberadora / Januar 2019

Was bedeutet „Befreiung der Mutter Erde”?

Der Planet erwärmt sich Tag für Tag und das Leben erlischt. Für uns liegt die Ursache nicht in der „menschlichen Natur“, sondern im Kapitalismus, der alles ausbeutet und zerstört. Die „Befreiung der Mutter Erde“ ist ein Angriff auf die Wurzeln des Übels hier im Norden des Cauca. Es geht darum, das Land aus den Händen der Monopole zu befreien, die es mit der Zucker- und Agrarkraftstoff-Industrie versklaven. Es bedeutet, das Zuckerrohr abzuschneiden und dafür Nahrungspflanzen anzubauen, Gemeinschaften des Lebens auf den Flächen zu gründen, die im Prozess der Befreiung sind. Die Natur wieder wachsen zu lassen, damit Wasser und Tiere zurückkommen. Es bedeutet, die Erde wieder in Harmonie zu bringen mit den Menschen, die von ihr und für sie leben.

Wir haben sieben Ansiedlungen oder „Befreiungs-Punkte“, wo nun Menschen leben, die ihr ursprüngliches Zuhause in den Bergen verlassen haben und in die heißen Ländereien der Ebene gekommen sind, um dem Kapitalismus die Stirn zu bieten und wieder Leben zu schaffen.

Wer nimmt daran teil?

Es ist nicht die gesamte Gemeinschaft der Indigenen und auch nicht die komplette Organisation; die Befreiung der Mutter Erde wird von einer kleinen Gruppe betrieben: Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche und Alte der Nasa-Gemeinschaften im Norden des Cauca.

Wie hat alles angefangen?

Im Jahr 1971 beginnen die Gemeinschaften mit Landbesetzungen – wir nennen das Recuperaciones, also Zurückgewinnung. Sie greifen damit das Erbe von Quintín Lame auf, dem Nasa-Anführer, dessen Kampf den Weg bereitete für die Wiedererlangung unserer Territorien und unserer Würde. Seit der Gründung des CRIC im Jahre 1971 in Toribio haben wir 120.000 Hektar Land wieder erobert.

Im Jahr 2005 entsteht die Liberación de la Madre Tierra – die Befreiung der Mutter Erde – als Antwort auf die humanitäre, klimatisch-ökologische Krise des globalen Systems. … und das fehlende Land für viele Nasa-Familien in den Resguardos. Konkret haben wir die Finca „La Emperatriz“ im Landkreis Caloto besetzt. Das war jedoch ein Fehlschlag, weil es mit einem Abkommen mit dem kolumbianischen Staat endete, das nie umgesetzt wurde. Unsere Lehre daraus: Verträge nicht mehr zu akzeptieren.

Am 14. Dezember 2014 haben wir zum ersten Mal Land eines großen Kapitalisten besetzt. Incauca ist ein Unternehmen von Carlos Ardila Lülle, einem der reichsten Männer Kolumbiens. Ihm gehört ein Imperium, das aus Zuckermühlen, Agrosprit-Raffinerien und anderen Konzernen besteht, z.B. einem Softdrink-Konzern oder dem Medien-Giganten RCN.

Was sind die Vorstellungen der Befreier*innen?

Wir wollen die Erde von der Zuckerrohr-Monokultur befreien, die das gesamte Tal des Cauca-Flusses besetzt. Wo heute Zuckerrohrplantagen sind, war früher tropischer Trockenwald. Wir befreien die Erde, die Luft und das Wasser von den Pestiziden. Wir befreien das Wasser, das privatisiert wird, das in den Bergen entspringt und von der Agroindustrie verschlungen wird. Das ganz große Ziel ist – ausgehend vom Norden des Cauca – das natürliche Gleichgewicht wieder herzustellen. Das ist eine andere Form, die Liberacion de la Madre Tierra zu beschreiben. Es ist uns sehr wichtig, dass unsere Botschaft möglichst weit verbreitet wird. Wenn nicht jeder Zipfel dieser Erde ein Ort der Befreiung wird, werden wir sie nicht erreichen!

Wie viele Fincas und wie viele Hektar Land sind schon befreit?

Aktuell gibt es sieben Fincas, wo die Befreiung stattfindet, aber es werden mehr. Bisher wurden rund 3.000 Hektar Land befreit. Dort wächst jetzt kein Zuckerrohr mehr, sondern Nahrungsmittel und Wildpflanzen. Aber die mit Zuckerrohr bepflanzte Fläche ist 330.000 Hektar groß!

Wie läuft die Liberación konkret ab?

Wir schneiden das Rohr ab, das für die Zucker- und Agrosprit-Produktion gepflanzt wurde. Dort pflanzen wir dann Nahrungsmittel. Doch einen großen Teil unseres Anbaus haben die staatlichen Sicherheitskräfte kurz vor der Ernte zerstört. Andere Ernten haben wir gemeinschaftlich verzehrt. Auf den Fincas haben wir kleine Siedlungen für mehrere Familien gebaut, die nun dort anbauen und Vieh halten. Die meiste Zeit sind wir aber damit beschäftigt, uns den Angriffen und Räumungsversuchen der staatlichen Sicherheitskräfte zu widersetzen.

Wie reagieren Regierung und Agroindustrie?

Das Ziel der bisherigen Regierung Santos war die Zerschlagung der Liberación mit einer mehrgleisigen Strategie: zunächst die brutale, militärische Repression, die Verbrennung unserer Nahrungsmittel, der Ernten, des Saatguts, der provisorischen Häuschen und von allem, was sie vorfinden, um die Gemeinschaft der Liberación zu vertreiben. Bei mehr als 300 Angriffen haben sie acht Menschen getötet und über 600 verletzt. Dann die juristische Verfolgung mit mehr als 200 Angeklagten sowie die mediale Strategie mittels der Stigmatisierung der Nasa-Gemeinschaften und der Libertadores/as. Schließlich die institutionelle Strategie, indem sie uns ein Abkommen anbieten und Projektgelder, wenn wir den Kampf der Liberación aufgeben.

Es gibt mehr als 1200 unterzeichnete Abkommen mit der indigenen Bewegung, die die Regierung nicht umgesetzt hat: unter anderem die Wiedergutmachung für das Massaker an den 20 Nasa im Jahr 1991 in der Hazienda „El Nilo“ in Caloto. Bis jetzt verhandeln wir die Liberación de la Madre Tierra nicht, weil das Leben keine Ware ist. Wenn es irgendwann zu Verhandlungen kommen sollte, dann aus den einzelnen Fincas heraus und auch nur mit dem einzig akzeptablen Ergebnis der Freiheit für unsere Mutter Erde. Wir haben keine Eile, wir schreiten langsam voran, weil der Weg weit ist. Wir werden die Fincas nicht verlassen! Es gab schon mehrere Verhandlungsversuche des Staates, aber wir sind nicht gewichen und werden auch nicht weichen!

Die Liberación läuft nun schon seit Jahren, woher nehmen Sie die Energie weiter zu machen?

Die Kraft gibt uns Mutter Erde, unsere Mayores (Alten und Weisen, Anm. d. Red.), unsere Spiritualität und der Traum, unsere Mutter Erde frei zu sehen. Dieser Kampf hat Wurzeln, die 480 Jahre alt sind. Mit so tiefen Wurzeln ist die Kraft auch groß!

Landbefreiung in Corinto. Foto: Jochen Schüller

Wie hat sich die Situation seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags verändert?

Es gibt mehr Repression durch die staatlichen Sicherheitskräfte. Mit dem Frieden kommt das Geld, auch weil der Frieden für manche ein Geschäft ist. Es gibt jetzt viele Angebote für Projekte von den Industriellen und Ausbildung in Workshops. Das machen sie, um uns von unserem Kampf zu entfernen. Sie versuchen mit vielen Mitteln uns zu spalten, damit wir die Fincas verlassen. Dennoch bleibt die Liberación standhaft und wir verlassen die Fincas nicht. Im Gegenteil, wir beginnen an weiteren Orten damit, das Zuckerrohr abzuschneiden und Nahrungsmittel zu pflanzen. Jetzt, wo die Guerilla kein Risiko mehr und nicht mehr der interne Feind ist, rücken die starken und authentischen Kämpfe ins Visier der Macht.

Was ist die Perspektive für die Zukunft?

Wir werden weiter die Mutter Erde befreien, damit das Leben weiter geht, wir werden Fincas an noch mehr Orten besetzen. Auf dass sich die Menschen in das Leben verlieben und dass sich in allen Ecken der Welt Menschen aufmachen, Mutter Erde zu befreien!

Die großen Herausforderungen werden in erster Linie die Angriffe der aktuellen Regierung unter Duque sein. Die Macht nutzt eine ganze Maschinerie, um uns zu zerlegen.
Unser Standpunkt dabei: „Es ist Zeit nach Hause zu gehen.“ Nachdem wir viele Erkenntnisse gewonnen und viele Formen des Kampfes kennengelernt haben, sind wir heute überzeugt, dass es unsere eigene Weisheit ist, die uns erlauben wird, Mutter Erde zu befreien. Es geht darum, Wurzeln zu schlagen. Das wird es uns ermöglichen, Mutter Erde zu befreien. Zugleich müssen wir uns umarmen, uns mit anderen Bewegungen und Gemeinschaften zusammentun, unsere Zweige ausstrecken und verlängern. Niemand kann sich alleine befreien! Das zeigt sich auch in unserer Agenda: Mingas, um Zuckerrohr zu schneiden und zu säen, lokale Treffen der Liberación, Rundreisen durch die Welt, Kommunikations-Minga, Politische Schule der Liberación, internationale Treffen der Liberación de la Madre Tierra sowie der „Protestmarsch für Nahrung“.

Erzählen Sie bitte von der Minga der Kommunikation und Kunst!

Die Minga der Kommunikation hat vier Aufgaben: uns mit der Erde zu verbinden, das Denken anzufeuern, unseren Protest zu erzählen und uns mit anderen Gemeinschaften und Bewegungen zu vernetzen. Die Kommunikations-Minga ist ein Beispiel für die Arbeit vieler Hände.

Wir haben fünf Arbeitsbereiche: Radio, Video, Grafik-Design, Redaktion, Soziale Medien. Jeder Bereich beschäftigt sich sowohl mit dem Spirituellen, dem Politischen und der Technik. Jede Minga hat verschiedene Aktivitäten: Rituale, Gesprächsrunden, Workshops, kreative Übungen, Video-Foren, Treffen mit Mayores und Mayoras, Kontextanalyse, gemeinschaftliche Aktionen, Mingas auf den Fincas.
An der Kommunikations-Minga haben Menschen aus unseren Gemeinschaften teilgenommen, Studierende und Professor*innen, Organisationen und Bewegungen der Basis. In der zweiten Etappe haben wir an allen Orten der Liberación Treffen veranstaltet. Hier verknüpften wir die Kommunikations-Minga mit der Politischen Schule.

Die Kunst-Minga haben wir „El Desalambrarte“ genannt (Bezugnahme auf Daniel Vigliettis Lied mit der Aufforderung, die Zäune einzureißen – Anm. d. Red.). Sie zog mit Tanz, Theater und Musik durch verschiedene Orte im Norden des Cauca, um das Wort von der Liberación de la Madre Tierra zu verbreiten, begleitet von einem kleinen Radiosender.

Wie ist die Erfahrung mit Internationalist*innen?

Für uns sind die internationalen Beziehungen fundamental. Diejenigen, die bisher kamen, haben die Regeln respektiert, die sich jeder Ort der Befreiung selbst gibt. Wir akzeptieren nur Leute, die auf Empfehlung von befreundeten Bewegungen hierher kommen.

Wie können Menschen an anderen Orten der Welt solidarisch sein mit der Liberación?

Helft uns, unsere Botschaften und Nachrichten zu verbreiten, die auf unserer Website zu finden sind: www.liberaciondelamadretierra.org

Macht Demonstrationen in euren Ländern, wenn die Regierung unseren Kampf angreift. Stellt unseren Kampf vor: an Universitäten, in Seminaren, Vorlesungen etc.
Wir brauchen Geld für internationale Treffen der „Befreier*innen der Mutter Erde“ aus aller Welt, oder für „Befreier*innen“, die in andere Landesteile oder Länder reisen, um zu erzählen. … oder für Matratzen, Plastikplanen und Wasserbehältern, weil die polizeilichen Sondereinheiten als erstes bei ihren Angriffen verbrennen.

Die beste Form der Unterstützung ist es, jeden Winkel der Welt in einen Ort der Liberación zu verwandeln. Selbst Kämpfe zu führen, die nicht aufhören und sich mit der Zeit halten als Lebensform. Der Kapitalismus wird es schwer haben, starke und würdevolle Kämpfe und Bewegungen zu zerschlagen.


Dieses Interview ist Teil der Broschüre „Land, Kultur und Autonomie – Die indigene Bewegung des Cauca (Kolumbien)“, die im Januar 2019 von zwischenzeit e.V. veröffentlicht wurde.


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