
von Jochen Schüller / Januar 2019
Feliciano Valencia gehört zu den prominentesten Vertreter*innen der indigenen Bewegung des Cauca. Er war unter anderem Beauftragter für Menschenrechte der ACIN und einer der Sprecher*innen der MINGA ab dem Jahr 2008, internationaler Sprecher für den Congreso de los Pueblos und Ratsmitglied im CRIC. Daher wurde er auch Opfer staatlicher Repression und saß mehrere Monate im Gefängnis. Seit dem Frühjahr 2018 ist er Senator im kolumbianischen Parlament für die noch junge Liste MAIS – Movimiento Alternativo Indígena y Social. Jochen Schüller sprach mit ihm über die indigene Bewegung im Cauca.
Worauf basiert der Kampf der Indigenen im Norden des Cauca?
Der Kampf im Norden des Cauca beruht, wie bei den meisten der 102 indigenen Völker Kolumbiens, auf der Verteidigung unseres Landes, unseres Territoriums, unserer Kultur und unserer Rechte, die in den Gesetzen und Normen Kolumbiens garantiert sind: die eigene Regierung, Kultur, Rechte, Land und Territorium sowie Autonomie!
Was ist das Wichtigste für die Indigenen im Cauca?
Das Wichtigste für uns ist das Land, als Mittel zur Produktion. Außerdem die Garantie, dass unsere Produktion einen Markt findet, sowie die Ernährungssicherheit, damit die Menschen der indigenen Gemeinschaften gut leben können. Die Indigenen leben gut mit Land, Nahrung, unserer Kultur und den Traditionen, weil wir das von unseren Vorfahren übernommen haben. Darauf beruht der Kampf der Indigenen.
Dieser Kampf dauert nun schon mehr als 500 Jahre! Wie sind die Indigenen heute organisiert?
Heute sind die indigenen pueblos („Völker“) Kolumbiens in der ONIC (Organización Nacional Indígena de Colombia – Nationale Organisation der Indigenen in Kolumbien) organisiert, die ihren Sitz in Bogotá hat. Auf regionaler Ebene sind wir im CRIC, dem „Regionalen Rat der Indigenen im Cauca“ organisiert. Dann sind wir uns noch im Norden des Cauca in der ACIN zusammengeschlossen, der „Vereinigung der Indigenen Räte im Norden des Cauca“. Und auf lokaler Ebene in den Räten (Cabildos).
Die Partizipation findet in den Asambleas – den großen Versammlungen – und den Kongressen statt. Dort kommen bis zu 20.000 Menschen zusammen, um unsere Autonomie zu organisieren, unsere eigenen Gesetze zu schreiben, die Verteidigung unseres Territoriums zu beschließen und von der Regierung mehr Land einzufordern. Wir treffen Beschlüsse zum Schutz unserer Umwelt, der natürlichen Ressourcen und der Biodiversität, die wir weiterhin beschützen und für die wir sorgen.
So organisieren wir uns auf den verschiedenen Ebenen, um unsere garantierten Rechte zu entwickeln und zu entfalten.
Die Bewegung im Norden des Cauca war Ausgangspunkt und Speerspitze von sozialem Widerstand. Erzählen Sie uns bitte davon!
Im Norden des Cauca hat sich tatsächlich eine besonders starke soziale Bewegung entwickelt. Dazu haben wir uns mit Kleinbauern, Afro-Kolumbianer*innen, Studierenden und Arbeiter*innen zusammengeschlossen. Unsere Ideologie bezieht sich auf das Land, das Territorium und die Autonomie, die Verteidigung der Biodiversität und der Naturressourcen. Wir erschaffen ein gemeinschaftliches Modell, an dem wir alle mitwirken und Teil haben.
Daher sind wir in gewisser Weise ein Vorbild. Schließlich hat die Bevölkerung im Norden des Cauca am meisten unter dem bewaffneten Konflikt gelitten. Wir haben den Krieg in unserem Territorium durchlebt. Wir haben Mechanismen des Widerstands entwickelt, wie etwa die Guardia Indígena. Zusammen mit anderen Bevölkerungsgruppen sind wir stärker geworden, auch auf nationaler, kontinentaler und globaler Ebene, denn wir wissen, dass auch andere Menschen weltweit für ein besseres Leben – ein Buen Vivir – kämpfen. Die Demokratie funktioniert, wenn die Regierungssysteme inklusiv sind.
Wir haben die indigene Bewegung nach innen gestärkt und eine nationale Bewegung ins Leben gerufen: die Minga Social y Comunitaria im Jahr 2008. Daraus ist der Congreso de los Pueblos (Anm. d. Red.: ein nationaler Dachverband sozialer Bewegungen) entstanden. Unsere Forderung, unser Programm ist der Aufbau einer Gesellschaft für ein besseres Leben.
Mit der MINGA waren verschiedene Forderungen und Ziele verbunden – welche waren das genau?
Im Jahr 2008 haben wir eine massive Mobilisierung begonnen mit Demonstrationen, Kundgebungen, Protestmärschen, der Verteidigung unseres Territoriums, beispielsweise gegen die Freihandelsabkommen und das damit verbundene Entwicklungsmodell. Wir sind dazu nie befragt worden! Wir haben eine andere Vorstellung von Entwicklung: Sie soll nicht allein Reichtum hervorbringen, sondern die Grundbedürfnisse befriedigen. Es darf nicht nur um Geld gehen, vielmehr muss Entwicklung dem Frieden dienen. Wir haben sehr stark gegen das amerikanische Freihandelsabkommen ALCA protestiert. Außerdem haben wir uns gegen die Vertreibungspolitik gewehrt, welche die Regierung mit der Agrargesetzgebung noch verstärkte. Und gegen die Sicherheitspolitik und die Politik der sogenannten „Demokratischen Sicherheit”, die uns nur mehr Krieg bescherte (der rechtsextreme Präsident Álvaro Uribe Vélez – 2002-2010 – bezeichnete so seine repressive Innen- und Kriegspolitik, Anm. d. Red.).
Deswegen haben wir die Minga organisiert, uns mit anderen Bevölkerungsgruppen verbündet und gefordert, dass sie uns in Frieden lassen sollten. Zwei Monate lang sind wir zu Fuß vom Cauca bis nach Bogotá marschiert mit der Forderung, dass die Regierung alle schädlichen Gesetze abschafft, die die Indigenen beeinträchtigen. Und dass der Staat unsere Rechte achtet und umsetzt!
Und die Bewegung setzt weiterhin auf Landbesetzungen. Was bedeutet die „Befreiung der Mutter Erde“ – die „Liberación de la Madre Tierra“?
Die Liberación bedeutet für uns, die Menschheit zu verteidigen, das Universum, den Planeten. Schließlich zerstört dieses Entwicklungsmodell, diese Wirtschaftsweise die Welt, die Biodiversität, die natürlichen Ressourcen. Das Land wird privatisiert, das Territorium gefährdet und somit auch das Leben – nicht nur der Indigenen sondern der gesamten Menschheit! Daher besteht unsere wichtigste Aufgabe darin, die Erde, die Biodiversität, die natürlichen Ressourcen und das Territorium zu verteidigen, weil das alles für uns Leben bedeutet: Das Leben aller, nicht nur der Indigenen, sondern der gesamten Menschheit.
Zur Verteidigung der Gemeinschaft und des Territoriums haben Sie die Guardia Indígena gegründet. Wie viele davon gibt es und wofür ist diese Guardia gedacht?
Die indigenen Autoritäten haben beschlossen, dass wir unser Territorium kontrollieren und verteidigen müssen, daher wurde die Guardia Indígena gegründet: Das sind Frauen und Jugendliche, Erwachsene und Kindern und auch Alte – sie alle haben die Aufgabe, das Territorium zu verteidigen. Im Norden des Cauca sind es rund 4.000, aber es sollen bis zu 10.000 Guardias Indígenas werden, die das Territorium lediglich mit ihren Stöcken verteidigen, die unsere Autoritäten ihnen gegeben haben – fest entschlossen, die Mutter Erde zu verteidigen! Wenn es hart auf hart kommt, werden jedoch alle 112.000 Bewohner*innen hier im Norte del Cauca zu Guardias. Dann ist es die Aufgabe der ganzen Gemeinschaft und nicht nur der Guardia Indígena, das Territorium, unser Land zu verteidigen!
Was sind die aktuellen Herausforderungen?
Ein Herausforderung sind die Gesetze, die die Regierung erlässt, um das Friedensabkommen umzusetzen. Dagegen müssen wir uns behaupten als indigene Gemeinschaften – im Rahmen der Vielfalt Kolumbiens. Wir müssen unsere eigenen Regierungen aufbauen gemäß unseres eigenen Denkens und unserer eigenen Kultur, nach der Logik des Buen Vivir (Gutes Leben), das wir einfordern. Die größte Herausforderung jedoch ist die Verteidigung unseres Landes und unseres Territoriums gegen das übermächtige Entwicklungsmodell, das zurzeit die Welt beherrscht. Eine ebenso große Herausforderung ist es, als indigene Völker zu überleben mit unseren Bräuchen und Traditionen, unserer Kultur und Sprache sowie unserem Gedankengut als Pueblos Originarios („ursprüngliche Völker“).
Was sind Ihre Träume?
Wir träumen davon, eine gemeinsame Plattform für den Kampf ins Leben zu rufen – und zwar nicht nur der indigenen Bevölkerung, sondern zusammen mit den Campesinas/os (Kleinbäuer*innen), den Afro-Kolumbianer*innen, den Studierenden und Arbeiter*innen, kurz, mit der ganzen Bevölkerung, die auf die eine oder andere Art ausgegrenzt wird vom herrschenden System in Kolumbien. Unser Ziel ist nicht nur ein Territorium für die Indigenen, sondern ein Territorium und eine eigene Regierung, eine Demokratie für die gesamte Gesellschaft in Kolumbien.
Dieses Interview ist Teil der Broschüre „Land, Kultur und Autonomie – Die indigene Bewegung des Cauca (Kolumbien)“, die im Januar 2019 von zwischenzeit e.V. veröffentlicht wurde.
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